Der SV Atlas ist nicht erst seit seiner Wiedergründung vor sieben Jahren ein Verein der 1000 Geschichten; zwischen (nicht immer) glanzvoller Vergangenheit und erfolgreicher Gegenwart hat sich dieser Club immer etwas Mystisches bewahrt, das sich schwer erklären lässt. Seit Samstag und der DFB-Pokal-Auslosung sind der Oberligist und die Fußball-Stadt Delmenhorst nun um derart viele Anekdoten reicher, dass man sie unmöglich alle erzählen kann. Man könnte zum Beispiel vom Ex-Vorsitzenden Jörg Borkus berichten, dem an der Theke der Vereinskneipe Jan Harpstedt die Tränen kamen, als Werder Bremen als Erstrundengegner gezogen wurde. Man könnte auch Kevin Radke nennen, der seit Kreisklassen-Zeiten bei Atlas kickt und nun im DFB-Pokal gegen Werder spielen darf.
Der schönste Moment war aber wohl dieser Anruf, den Gründungs- und Vorstandsmitglied Bastian Fuhrken um kurz vor 19 Uhr vor Jan Harpstedt bekam. Es war ein Rückruf von Werder-Trainer Florian Kohfeldt, der selbst Delmenhorster ist. Was die beiden genau besprachen, ließ sich nicht verstehen, doch es wurde viel geflachst in diesem Telefonat – unter Nachbarn kennt man sich schließlich. Der Werder-Coach verfolgt die Geschichte des SV Atlas sehr genau und hatte auch schon vor dem Niedersachsenpokal-Finale gegen den TuS Bersenbrück Glück gewünscht.
Nicht nur Kohfeldt und Fuhrken hätten Losfee Nia Künzer an diesem Abend wohl am liebsten zur Delmenhorster Ehrenbürgerin ernannt. Es ließ sich unschwer erkennen, dass es für beide Vereine keine bessere Paarung hätte geben können als dieses Derby, die ungleichen Nachbarn trennen zwar vier Ligen, aber nur 13,4 Kilometer Luftlinie. „Unglaublich, es ist perfekt gelaufen“, fand Fuhrken, Kohfeldt ließ im Namen von Werder mitteilen: „Wir freuen uns sehr über das Los.“
Die Bremer waren sogar besonders forsch und teilten mit, dass bereits am Montag ab 9 Uhr auf der Internetseite Ticketbestellungen entgegen genommen werden, obwohl noch gar nicht feststeht, ob am 9., 10., 11. oder 12. August gespielt wird – und vor allem wo. Bei Atlas taktierte man gar nicht erst; man ging relativ offen damit um, dass das Bremer Weserstadion nicht die schlechteste Option ist. Denn das eigene Stadion an der Düsternortstraße müsste wohl relativ aufwendig in DFB-Pokal-taugliche Form gebracht werden und fasst nur 5999 Zuschauer. „Natürlich wäre so ein Spiel in Delmenhorst auch toll. Aber allein die Kapazität spricht dagegen“, erklärte Abteilungsleiter Thomas Luthardt. Fuhrken sagte es ganz klar: „Wenn man die Möglichkeit hat, im Weserstadion zu spielen, kann dieses Los vielleicht noch zusätzlich ziehen.“ Nebenbei könnte Atlas auf Bremer Hilfe bei der Ausrichtung hoffen.
Der Haken ist allerdings Paragraf 49 der DFB-Durchführungsbestimmungen – denn ein Heimrechttausch ist demnach ausgeschlossen. 2013 hatte man Amateurclub Schott Jena untersagt, das Spiel gegen den HSV in Hamburg auszutragen, wenn auch mit der Begründung, dass es „zwischen Jena und Hamburg viele andere Stadien gibt“. Atlas argumentiert anders: Es sei kein eigentlicher Tausch, betont Fuhrken – Atlas hätte nach wie vor das Heimrecht, nur eben im Weserstadion mit Werder als Gastmannschaft: „Wir werden sicherlich in den nächsten Tagen mit Werder sprechen.“ Dass die Bremer auch gern in der eigenen Arena spielen würden, ist ein offenes Geheimnis. Das Spiel würde vermutlich vor einem vielfachen der in Delmenhorst möglichen Zuschauerzahl stattfinden, was beiden Clubs hilft – denn die Ticket-Einnahmen werden geteilt. Manch einer träumte schon von 30 000 Fans, ein Fan scherzte: „Dem Gastverein stehen ja nur zehn Prozent der Karten zu. Da müssen die Werder-Fans sich beeilen.“
Die Frage ist nun, ob der DFB für den bisher einmaligen Vorgang eines indirekten Heimrechttausches Grünes Licht gibt. Falls nicht, ergäben sich fast schon absurde Szenarien: Dann könnte ein Spiel der Nachbarstädte Delmenhorst und Bremen in einer dritten Stadt ausgetragen werden – wohl in Oldenburg oder Osnabrück. Statt eines Heimspiels für beide wäre es ein doppeltes Auswärtsspiel. Der DFB war am Sonntag für keine Stellungnahme zu erreichen, ein Sprecher hatte aber vor der Auslosung betont: „Grundsätzlich liegt es bei Atlas, wo gespielt werden soll. Atlas gibt ein Heimstadion an, das nicht unbedingt in Delmenhorst sein muss. Und wir sehen, ob das möglich ist.“ Ein Derby gegen Werder hatte man da noch nicht kommen sehen können. Auf seiner Internetseite schrieb der Verband in einer Mitteilung zur Auslosung allerdings selbst: „Jetzt muss der Verein darüber nachgrübeln, wo der Hit steigen wird. Ein Umzug ins Weserstadion könnte eine Option werden.“
Am Dienstag reist Fuhrken zu einem Workshop nach Offenbach, bei dem offene Fragen geklärt werden sollen. Bis dahin kann er auch keine der zahlreichen Kartenwünsche erfüllen, die ihn schon erreicht haben. Eine Stunde nach der Auslosung hatte er bereits 154 Nachrichten bekommen, die meisten waren Glückwünsche – mit mehr oder weniger elegant verknüpften Ticketanfragen. „Egal wo es stattfindet, es wird ein Fußballfest für die Region“, sagte er. Die Atlas-Spieler waren ohnehin aus dem Häuschen. „Das ist großartig. Unsere Chancen gehen gegen Null, aber wir werden alles versuchen, um zu gewinnen“, sagte Torwart Florian Urbainski, einer von vielen Delmenhorstern mit Bremer Vergangenheit, so wie Abwehrchef Karlis Plendiskis, der einst unter Kohfeldt als Co-Trainer in Werders U17 gespielt hat: „Einige Leute kenne ich noch.“