Ein Bericht von Daniel Niebuhr vom Delmenhorster Kreisblatt (dk-online vom 3.12.22)
Vizekapitän Nico Matern vom SV Atlas Delmenhorst hat in seiner Laufbahn schon viel gesehen. Er war Deutscher Meister (nicht im Fußball), Stadionnachbar von Taylor Swift (mehr oder weniger), für das Tor des Monats nominiert – und vergaß doch nie, wo er herkommt: aus dem schönen Buxtehude.
Nico Matern aus Buxtehude und Taylor Swift haben optisch nur begrenzte Ähnlichkeit, die beiden befanden sich vor vier Jahren aber mal zur ziemlich ähnlichen Zeit am selben Ort. Die millionenschwere Popsängerin gab im September 2018 ein Konzert im Lucas Oil Stadium von Indianapolis, in dem sonst die Colts Football spielen und 2012 die New York Giants (mit Madonna in der Halbzeit) mal den Super Bowl gewannen. Die Swift-Show war mit 55.729 Fans natürlich ausverkauft und stellte den bis heute gültigen Konzertrekord für diese Arena auf.
Als der Tross weitergezogen und die pompöse Bühne wieder abgebaut war (was eine Weile gedauert haben dürfte), durfte Matern mit seiner Fußball-Mannschaft dann wieder rein. Er spielte zu dieser Zeit beim Zweitligisten Indy Eleven. Und das Lucas Oil Stadium mit seinen 16-Meter-Leinwänden, seinen elf Rolltreppen und seinem schließbaren Dach war sein Arbeitsplatz.
In Delmenhorst werden sie sagen, dass sein aktuelles Heimstadion mindestens genauso gut zu ihm passt. An der Düsternortstraße gibt es zwar unbestritten weniger Rolltreppen, aber dafür den rauen Charme des ehrlichen Fußballs. Hier spielt nicht Taylor Swift, sondern die Regionalliga – und darauf sind sie beim SV Atlas schon stolz genug. Momentan sieht es so aus, als würden sie ihren Platz in Deutschlands höchster Amateurklasse verteidigen: Atlas ist nach 20 Spielen Tabellendreizehnter, vier Punkte sind es vor dem Spiel gegen den 1. FC Phönix Lübeck am Samstag (14 Uhr) bis zum ersten Abstiegsplatz. „Ich bin mir absolut sicher, dass wir drin bleiben“, sagt Matern. „Das Team hat eine große Qualität.“
Auf dem Weg zum Klassenerhalt ist dem 29-Jährigen eine zentrale Rolle zugedacht. Der Mann, der auf dem Platz immer so aussieht wie ein Steuermann, der gerade ein Schiff durch stürmische See lenkt, ist vor einem Jahr genau dafür geholt worden und hat im zentralen Mittelfeld kaum Wünsche offen gelassen. Seitdem er vom Ligarivalen Teutonia Ottensen gekommen ist, stand er in 28 von 30 möglichen Pflichtspielen auf dem Platz und 26 Mal in der Startelf. Neunmal – und damit öfter als jeder andere – hatte er in dieser Regionalliga-Saison inzwischen schon die Binde am Arm, weil der etatmäßige Kapitän Dominik Schmidt verletzt ist. Matern wurde im Sommer von den Teamkollegen zusammen mit Florian Stütz zum Stellvertreter gewählt, was für ihn nicht unerwartet kam, obwohl er da erst sechs Monate im Verein war. „Ich bin schon ein Typ, der vorangeht“, sagt er. „Von daher hat mich das nicht überrascht.“
Seine Zweikampfstärke, seine klugen Pässe, vor allem aber seine Ruhe und Erfahrung sind für Atlas kaum zu ersetzen. Er hat auf seinen zehn Stationen schon mehr Freud und Leid gesehen als die meisten Kollegen in ihrer Karriere, mal in großen Arenen, mal auf Dorfplätzen vor kaum mehr als ein paar Dutzend Schaulustigen. Sein Weg nach Delmenhorst führte ihn über Wuppertal und Drochtersen nach Rostock, wo er für Hansa in der 3. Liga spielte – genau einmal – und den Landespokal gewann. Danach spielte er in Schöneberg in der Regionalliga und nebenbei Futsal bei den Hamburg Panthers, mit denen er Deutscher Meister wurde und in der Champions League auflief. Mit dem Buxtehuder SV stieg er dagegen aus der Oberliga ab und zog danach zum Studieren in die USA. Nach einem Jahr mit dem Fußball-Team der Indiana Wesleyan University, mit dem er das Endspiel der College-Meisterschaft erreichte und im All-Star-Team stand, überzeugte er im Probetraining beim Zweitligisten Indy Eleven – und wurde Profi.
Zwei Jahre lang ließ er sich in Indianapolis den Wind der großen Fußball-Welt um die Nase wehen. Matern hatte Teamkollegen aus 13 Nationen und spielte im Schnitt vor knapp 11.000 Zuschauern. Seine erste Saison war mit vielen Einsätzen und positiven Kritiken die bessere, doch die Matern-mäßigste Statistik stammt aus seiner zweiten: 81 Prozent seiner Pässe brachte er an den Mann.
Dass sein Abenteuer ein Ablaufdatum haben würde, war von vornherein klar: Seine damalige Verlobte und heutige Frau Jasmin wollte zurück nach Deutschland, um ihr Studium zu beenden – und er, um beruflich voranzukommen. Als er ging, bedankte sich sein Trainer, der Schotte Martin Rennie, nicht nur für seine Leistungen auf dem Rasen, sondern auch für „seinen Beitrag zur Gemeinschaft“.
Zu den Verrücktheiten seiner Karriere gehört, dass es Jürgen Hahn war, der ihn nach seiner Rückkehr zum VfB Oldenburg holte – Hahn war acht Monate zuvor nach drei Aufstiegen für viele überraschend bei Atlas entlassen worden, dem Club, bei dem Matern drei Jahre später auch gelandet ist. In Oldenburg erzielte er genau ein Tor, einen Volleyschuss aus 30 Metern gegen den Lüneburger SK, das für das Tor des Monats in der Sportschau nominiert wurde.
Für Atlas hat er noch nicht getroffen, doch die Delmenhorster könnten bald der Verein sein, für den Matern am häufigsten aufgelaufen ist. 60 Spiele hat er zu Beginn seiner Laufbahn für die SV Drochtersen/Assel gesammelt, 29 sind es bisher für Atlas, doch sein Vertrag läuft noch bis 2024. „Mal sehen, was danach kommt“, sagt er. „Wir haben ein sympathisches Team.“
Wo er 2024 wohnen wird, weiß er dagegen schon. Buxtehude ist wieder sein Lebensmittelpunkt, seine Frau hat dort einen Laden für Kreativzubehör, in dem er mithilft. Die beiden sind kürzlich Eltern eines Sohnes geworden. „Das stellt dein Leben ganz schön auf den Kopf“, sagt Nico Matern. Dass er noch einmal für den Sport in die Welt hinauszieht, darf man bezweifeln. „Wohl eher nicht“, sagt er und teilt eine der wichtigsten Lektionen, die er in seiner Karriere gelernt hat. „Der Fußball ist ein Drecksgeschäft. Man wird irgendwo hingelockt und spielt dann doch nicht. Ich bin sehr zufrieden, wie es gerade läuft.“